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„Vertafelung der Gesellschaft“

Jeder sechste Mensch in Deutschland lebt in Armut. Die Zahl ist seit Jahresbeginn um die Hälfte gestiegen, immer mehr Tafeln verkünden einen Aufnahmestopp. Immer mehr Menschen in Deutschland leben in Armut. Die Kinderarmut in Deutschland steigt immer weiter an. Jedes fünfte Kind lebt in einem Haushalt, der als einkommensarm oder davon bedroht gilt. Kinder von Alleinerziehenden und aus kinderreichen Familien sind besonders von Armut betroffen. Bei den Tafeln wird die Kinderarmut sichtbar: 30 Prozent der Tafel-Kundinnen und -Kunden sind unter 18 Jahre alt.

Bei den Tafeln wird ihre schwierige finanzielle Lage dramatisch sichtbar: Die Zahl der Tafel-Kundinnen und -Kunden hat sich seit Jahresbeginn um etwa die Hälfte erhöht. Damit suchen deutlich über zwei Millionen armutsbetroffene Menschen Unterstützung bei der Ehrenamtsorganisation – so viele wie nie zuvor. Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armutsquote im vergangenen Jahr einen traurigen Höchststand von 16,6 Prozent erreicht.

Die Landesarmutskonferenz (LAK) Niedersachsen warnt vor einer zunehmenden „Vertafelung der Gesellschaft“. Klaus-Dieter Gleitze, LAK-Geschäftsführer, erklärte dazu: „Vertafelung“ ist, dass der Staat sich zunehmend aus seiner Fürsorgepflicht gerade für Menschen mit wenig Geld zurückzieht. Diese Funktion wird von Tafeln für Lebensmittel übernommen, die »Normalverbraucher*innen« nicht mehr zugemutet werden. Die Verfügbarkeit des nicht verpflichtenden Angebotes ist hier abhängig von konjunkturellen Schwankungen und dem Willen freiwilliger Akteure wie Supermärkte und Charity-Organisationen. An einem möglichen Ende dieser Entwicklung steht neben dem normalen gesellschaftlichen Kreislauf ein System des Verwaltens von Not, staatlich gefördert, ehrenamtlich getragen und von einem wachsenden Hauptamtlichenapparat verwaltet und gesteuert. Alles, was zweite Qualität besitzt, geht an Bürger*innen zweiter Klasse. Nicht mehr gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Ganzen ist das Ziel, sondern getrennte Wirtschafts- und Konsumkreisläufe produzieren getrennte Gesellschaftssegmente. Kommunikation, Begegnung findet immer weniger statt. Und was bei Ernährung mit Tafeln funktioniert, kann auch für andere gesellschaftlich existentielle Bereiche Maßstab werden, wie Gesundheit, Wohnen, Bildung, Kultur.

Der aktuelle Koalitionsvertrag der Regierungsparteien sieht die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz als Grundrecht vor. Offen ist dabei jedoch die genaue Ausgestaltung. Das DNSV fordert gezielt die soziale Teilhabe und die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen. Es müssen dringend politisch wirksame Maßnahmen getroffen werden, damit Kinder die Armut ihrer Eltern nicht länger erben, sondern diesen Teufelskreis durchbrechen können: DNSV hat dazu eine Online-Petition an den Deutschen Bundestag eingereicht.